LIP goes Plastic

Kunststoff in der Uhrenindustrie

Kunststoffuhren gab es schon 15 Jahre vor der Swatch. Ob die Calipso ihrer Zeit voraus war oder die Kunden dem Zeitgeist in den 1960er Jahren noch hoffnungslos hinterherhinkten, mag jeder Sammler für sich selbst entscheiden.
prototyp 1967 lip

Seit vorletztem Sommer ist es beschlossene Sache: Einwegprodukte aus Kunststoff, wie Strohhalme, Besteck oder Wattestäbchen, werden per Gesetz verboten und dürfen nicht mehr in Verkehr gebracht werden. Der auf der Londoner Weltausstellung 1862 vorgestellte Kunststoff Nitrozellulose (oder «Parkesine», nach seinem Erfinder Alexander Parkes) sollte im Laufe seiner weiteren Entwicklung einen weltumspannenden Siegeszug erfahren.

Doch gut 150 Jahre später gilt «Plastik» als Problemkind – insbesondere bei seiner Entsorgung. Bei einer weltweiten Jahresproduktion von über 400 Millionen Tonnen und der nur eingeschränkt möglichen, aufwendigen Recycelbarkeit ist das Multitalent nur schwer zu beherrschen. Doch der «bad guy» hatte durchaus seine guten Zeiten. Er eroberte gerade im letzten Jahrhundert peu à peu alle Lebens- und Wirkungsbereiche des modernen Menschen. Viele Produkte wären ohne den Einsatz von Plastik schier unbezahlbar geblieben oder nicht realisierbar gewesen.

Auch in der Uhrenindustrie erkannte man recht früh den praktischen Nutzen des noch jungen Werkstoffs. Einige Komponenten, wie bspw. Lagersteine oder Gläser, machten eine Taschen- oder später auch Armbanduhr für viele schier unbezahlbar. So begann man bereits Anfang des letzten Jahrhunderts die für die Lager aufwendig bearbeiteten echten Rubine sukzessive durch solche aus Kunststoff zu ersetzen. Ähnliches geschah ab ca. 1920 mit den Kristallgläsern. Auch diese sehr teure Komponente einer Uhr wich den billiger zu produzierenden Gläsern aus Zelluloid.

Ab 1934 war hier die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass das nun «Plexiglas» genannte Material weltweit den Uhrenmarkt eroberte. Weiter ging der Einsatz von Plastik in der Uhrenbranche jedoch lange Zeit nicht, und der stete Gebrauch hochwertiger Materialien wie Messing, Gold und sonstiger Metalle galt weiterhin als unabdingbares Qualitätsmerkmal einer Uhr. Erst zu Beginn der 1960er Jahre kam Bewegung in die Branche, und einige mutige Marken wagten den ersten Schritt: eine gangbare Uhr in einem Kunststoffgehäuse!

1967 entwickelte die holländische Firma AKU das erste Kunststoffgehäuse für Uhren. Im gleichen Jahr lancierte die Voumard Time Company (Hauterive, CH) eine kleine Serie fertiger Uhren im Kunststoffgehäuse. Diese Innovation wurde damals jedoch kaum beachtet, und Voumard ließ das Projekt fallen, um weiter konventionelle Uhren zu vermarkten. Gänzlich unbemerkt blieben diese neuen Anstöße jedoch nicht. In Frankreich wurde die Idee von einem Mann beobachtet, der bereits zuvor mit ungewöhnlichen Ideen und Erfindungen die Uhrenbranche zu verändern versuchte.

Lip Les Candides
Zwei Kunststoffuhren des Designers M. Boyer aus der Serie "Les Candides" im weißen und schwarzen Monobloc-Gehäuse mit dem Lip Kaliber T13, ca. 1975

Fred Lip und Jaques Cousteau

1967 war für Fred Lip, den Eigner der Lip-Werke in Besançon, ein gutes und wichtiges Jahr. Zum 100. Jubiläum seiner Firma lancierte die Marke die Nautic-Ski, eine innovative Uhr mit innenliegendem drehbarem Skalenring und elektromechanischem Werk. Das wasserdichte EPSA-Gehäuse aus der Schweiz garantierte Tauchgänge bis 200 Meter. Bei der Entwicklung dieser Uhr war der bekannte Meeresbiologe und Taucher Jacques-Yves Cousteau maßgeblich behilflich gewesen, woraus zwischen den beiden Männern eine enge Freundschaft entstanden ist.

Cousteau lud Fred Lip 1967 für ein Wochenende zu sich nach Toulon auf sein Forschungsschiff «Calypso» ein. Das Treffen blieb nicht ohne Folgen. Zurück in Besançon, ließ Fred Lip seine Ingenieure antreten. Beflügelt vom Erfolg der Nautic-Ski wollte er eine weitere Taucheruhr auf den Markt bringen, diesmal jedoch in einem Kunststoffgehäuse. Das Lastenheft für diese neue Entwicklung war klar gesteckt: wasserdichtes Monobloc-Gehäuse, unempfindlich gegenüber Salzwasser, starken Temperaturschwankungen, Säuren und Laugen. Zudem sollte die Uhr in verschiedenen Farben angeboten werden.

Kunststoffuhren Vergleich
Lip Calipso mit grauem Delrin-Gehäuse (links) daneben eine Minilip (ca. 1971) Kaliber E8 8800. Mit diesem sportlichen Hybrid wollte Lip Restbestände der glücklosen Kinder-Lernuhr "Minilip" und Kunststoffschalen der auslaufenden Calipso-Produktion vermarkten.

Die Ingenieure suchten aufgrund ihrer mangelnden Erfahrungen mit dem neuen Werkstoff einen versierten Partner und fanden diesen in Nemours in der Schweiz. Die dort ansässige Firma Dupont hatte kurz zuvor eine neue Kunststoffgeneration auf den Markt gebracht und sie «Delrin» getauft. Dieser Kunststoff wird bis heute bei Dupont produziert und wurde bereits damals als Allrounder beworben, mit allen von Lip gesuchten Eigenschaften.

Reibungsarmut und Verschleißfestigkeit lassen Delrin gut mit Metallen und anderen Polymeren agieren. Zudem ist der Kunststoff leicht einzufärben, bietet ein sehr breites Betriebstemperaturspektrum und eine Unempfindlichkeit gegenüber Säuren und Laugen. Erste Prototypen wurden noch 1967 Tests unterzogen.

Proto Gehäuse LIP
Das leere Gehäuse mit den Ausbuchtungen zur passgenauen Aufnahme des Lorsa Kaliber P75.

Bei diesem bereits sehr weit gediehenen Prototyp handelt es sich um eine gangbare Uhr. Das eingebaute (und für Lip recht ungewöhnliche) Lorsa Kaliber P 75 wird anhand einiger rechteckiger Ausbuchtungen an der inneren Gehäusewand befestigt. Ein in den Kunststoff eingelassener Metalltubus nimmt die zweigeteilte Aufzugswelle (sog. «Reißkrone») auf. Fixiert wird das Werk zusammen mit dem auffälligen bordeauxroten Zifferblatt mit «lip Dauphine»-Aufdruck durch das Aufsetzen des Glases. Das bordeauxrote Armband gibt dem Prototyp den letzten Schliff und lässt ihn schon fast serienreif erscheinen. Auch Fred Lip muss von den schnellen Fortschritten begeistert gewesen sein und gab schlussendlich grünes Licht für die weitere Bearbeitung zur serienreifen Taucheruhr.

Die «Calipso 200»

Zusammen mit Dupont wurde das Gehäuse zur Serienreife gebracht. Das Monobloc-Gehäuse geriet am Ende insgesamt dickwandiger, und die Innenwanne wurde für den Einbau eines Durowe Kaliber 451 gestaltet. Ein dickes, hochgewölbtes Glas mit einer darunter angeflanschten Dichtung wird von einer Kunststofflünette eingerahmt. Das Gehäuse ist oben so konzipiert, dass ein kleiner Rand über die Lünette übersteht.

Bei der «12» und der «6» fehlt dieser Rand, und die Riffelung der Lünette lässt sich zum Verdrehen greifen. Große Ziffern und Indexbalken mit viel Leuchtmasse sowie breite Zeiger erleichtern das Ablesen der Uhrzeit auch bei wenig Licht. Das Lip-Logo in Form eines Wappens befindet sich in erhabener Form auf dem Gehäuseboden. Die Calipso ist zifferblattseitig mit dem Zusatz «200» versehen, das steht für die maximale Tauchtiefe dieser Uhr.

Der Modellname CaLIPso ist eine Hommage an das Forschungsschiff Calypso, die Schreibweise mit großen Binnen-Buchstaben bringt den Markennamen LIP ins Spiel. Dies dürfte Kommandant Cousteau geschmeichelt haben; trotz allem verwendete seine Mannschaft die Calipso nie als Begleiterin für ihre Expeditionen. Neben diversen Taucheruhren anderer Hersteller vertraute man hier letztendlich doch auf die innovativere Nautic-Ski!

Rückseite einer Lip Candide
Rückseite einer Lip Candide mit originalem Kunststoffarmband.

Als die Calipso 1968 debütierte, gab es sie in insgesamt neun Farben: Schwarz, Weiß, Rot, Blau, Grau, Violett, Grün, Orange und Hellbraun. Trotz einer großen Werbekampagne blieben die Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurück. 1971 wurden die Restbestände liquidiert und die im Werk verbliebenen Komponenten eingestampft und entsorgt. Lip ließ das Projekt Kunststoff daraufhin bis auf Weiteres fallen.

Plastik im Design-Gewand

Die Zeichen standen bei Lip Anfang der 1970er Jahre ohnehin auf Sturm. Die Schweizer Ébauches SA dirigierte den Konzern dank ihrer Kapitalmehrheit, aber Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Letztendlich führte die Situation 1973 zum großen Knall: Die Fabrik wurde von den Mitarbeitern fast ein Jahr lang besetzt.

1974 übernahm Claude Neuschwander die Geschicke der Marke, deren Ansehen durch die Unruhen Schaden genommen hatte. Um Lip wieder neu und erfolgreich zu positionieren, holte Neuschwander einige bekannte Designer und Architekten mit dem Auftrag ins Boot, für Lip völlig neue Uhren zu kreieren.

Der renommierte Innenarchitekt Michel Boyer ersann für Lip neben einer Neuauflage der Lip Panoramic aus den 1950er Jahren auch eine Serie von insgesamt 20 kleinen Uhren, deren Monobloc-Gehäuse aus sogenanntem «Hostaform»-Kunststoff bestanden. Dieser zur Rohstoffgruppe der Polyacetalharze (POM) zählende Kunststoff ist ähnlich wie Delrin steif, schlagzäh und resistent gegenüber Lösemitteln und starken Alkalien.

Die komplette Serie war in zwei Modellreihen aufgeteilt: «Les Candides» und «Les 4 Saisons». Wie bei der Calipso wurden verschiedene Farben angeboten, und alle Modelle wurden mit dem werkseigenen mechanischen Kaliber T13 bestückt. Ab 1975 lagen die Uhren in den Verkaufsräumen, wo sie für 140 französische Francs angeboten wurden – konventionelle Lip-Uhren kosteten das Doppelte.

LIP Candides und 4 Saisons
Die Serien «Candides» und «4 Saisons» (hier rechts in der Ausführung Herbst) traten Mitte der 1970er Jahre recht selbstbewusst auf.

Das Ende einer Vision

Um es kurz zu machen: Die Kundschaft honorierte das Angebot nicht. Die konservative Käuferschicht fand diese Uhren zu bunt, zu verspielt, zu leicht, zu «cheap». Diese Uhren waren wohl, wie schon die Calipso, ihrer Zeit noch immer zu weit voraus – oder hinkte die Kundschaft der Zeit hinterher? Es spielte letztendlich aber auch keine Rolle mehr, denn bereits 1976 geriet Lip erneut in schwieriges Fahrwasser, und das Werk wurde abermals bestreikt.

Claude Neuschwander nahm seinen Hut, und was von Lip noch übrig blieb, wurde in den darauffolgenden Jahren Stück für Stück demontiert und begraben. Nur acht Jahre später hatte die Kundschaft die verlorene Zeit eingeholt: Am 1. März 1983 lancierte die Schweizer SMH die Swatch mit Kunststoffgehäuse, -glas und -band. Die Uhren wurden als «revolutionär» und «wegweisend» wahrgenommen und von den Käufern geradezu begeistert empfangen.

Text: Oliver Johannes
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