20 Jahre Ulysse Nardin Freak

Disruptive Entwicklung

Die Freak von Ulysse Nardin ist ein Pionier in der Verwendung neuer Methoden und Materialien, welche die moderne Uhrmacherei verändert haben. Seit zwanzig Jahren ist jede neue Generation der Freak noch immer Denkanstoß, Konzeptstudie und Versuchslabor.
Prototyp Freak
Links: Die Breguet-Preisträgerin Carole Forestier kam 1997 als Konstrukteurin zu Ulysse Nardin und realisierte dort ihren eigenen Uhrwerksentwurf. Rechts: Noch nie gezeigt: Der funktionsfähige Prototyp von Ludwig Oechslin nimmt bereits die wichtigsten Gestaltungsmerkmale der Freak vorweg.

Die Basler Uhren- und Schmuckmesse des Jahres 2001 wird denjenigen, die dabei waren, noch lange in Erinnerung bleiben, insbesondere die Abendveranstaltung im Restaurant Escale an der Ecke der damaligen Messehalle 1. Ulysse Nardin hatte zu einem ganz besonderen Event eingeladen. Dann gingen die Lichter aus, und aus dem hinteren Teil des Raumes erklangen Trommelwirbel und Flötenklänge, wie man sie sonst an der Basler Fasnacht hört.

Weiß behandschuhte Gestalten in langen Gewändern mit bemalten Masken schritten herein, der vorderste schwang einen langen Dirigentenstab, während der zweite auf der kleinen Querflöte pfiff und der dritte ihnen andächtig folgte. Auf der Bühne angekommen, nahmen sie ihre Masken ab. Rolf Schnyder, Patron von Ulysse Nardin, war der Tambourmajor, Ludwig Oechslin hatte Piccolo gespielt, während Pierre Gygax dem Aufzug gefolgt war. Als Rolf Schnyder den Schleier von der Vitrine nahm, die zuvor niemand beachtet hatte, ging ein Raunen durch die versammelte Menge von Journalisten.

ATEMLOSES STAUNEN

Hier lag eine Uhr, wie man sie noch nie gesehen hatte. Anstelle von Zeigern rotierten auf ihrem Zifferblatt zwei pfeilförmige Uhrwerksteile, um Stunden und Minuten anzuzeigen. Übereinander angeordnet, vermittelten die technischen Elemente eine Tiefe auf dem Zifferblatt, wie man sie noch nie erblickt hatte. Auffallend war auch, dass diese Uhr keine Krone besaß.

Dafür machten die Einkerbungen in der wuchtigen Lünette klar, dass diese eine Funktion erfüllten, nämlich das Aufziehen des Federhauses und das Stellen der Uhrzeit. Abgesehen vom noch nie erlebten Aufbau enthielt die Uhr eine Premiere, die nicht auf den ersten Blick erkennbar war: Dies war die erste mechanische Uhr, die Komponenten aus Silizium enthielt – und obendrein eine neue Hemmung, die speziell für diese Uhr entwickelt worden war.

Ludwig Oechslin, der für Ulysse Nardin bereits die Trilogie astronomischer Uhren sowie den Ewigen Kalender Ludwig entwickelt hatte, stand im Rampenlicht, denn er war der Urheber des ungewohnten Werkaufbaus und der neuen Hemmung. Doch die Entwicklung dieser außergewöhnlichen Uhr, die noch einiges in der Uhrenindustrie bewegen sollte, wäre ohne das Team von Ulysse Nardin und ohne die Vorarbeit einer ehemaligen Mitarbeiterin der Marke nicht zustande gekommen.

Entwicklungsleiter Ulysse Nardin
Pierre Gygax (links) war lange Jahre Entwicklungsleiter von Ulysse Nardin. Das Bild zeigt den Pensionär mit CEO Patrick Pruniaux und Rolf Schnyders Witwe Chai Schnyder.

RÜCKBLENDE NACH 25 JAHREN

Wir trafen Ludwig Oechslin und Pierre Gygax, den damaligen Entwicklungschef, der die Freak bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2016 begleitete, um mehr über die Vorgeschichte dieser Uhr zu erfahren. Pierre Gygax erinnert sich: «1997 hatte Carole Forestier, die damals bei Ulysse Nardin arbeitete, den Prix Abraham-Louis Breguet gewonnen.

Oechslin und Schnyder
Links: Prof. Dr. Ludwig Oechslin ist einer der wichtigsten Vordenker der Uhrenindustrie. Für Ulysse Nardin konzipierte er neben der Freak auch die «Trilogie der Zeit» sowie den ersten vorwärts und rückwärts einstellbaren Ewigen Kalender sowie einige weitere Spezialitäten. Rechts: Rolf Schnyder rettete in den 1980er Jahren die Marke Ulysse Nardin vor dem Aus.

Sie hatte einen Prototyp präsentiert, bei dem sich das gesamte Uhrwerk im Gehäuse drehte und von einer umliegenden Feder angetrieben wurde. Rolf Schnyder war von der Idee begeistert, denn er sah darin wieder einmal etwas Einmaliges, das es bei keiner anderen Marke gab.» Schnyder beauftragte Gygax, das Konzept von Carole Forestier zu einer funktionierenden Uhr weiterzuentwickeln.

Doch schon bald tauchten Probleme auf: «Wir merkten, dass wir mit dem umlaufenden Federhaus niemals genügend Gangreserve erzielen würden», erzählt Gygax, «und auch das Aufziehen und das Stellen der Zeiger stellte sich als problematisch heraus. Rolf wusste sogleich, wen wir fragen könnten: Ludwig.» Ludwig Oechslin: «Ich betrachtete den Prototyp und sah gleich, dass das nicht funktionieren konnte. Kurioserweise hatte ich ein ähnliches Projekt in der Schublade, das ich ursprünglich ebenfalls beim Prix Abraham Louis Breguet hatte zeigen wollen.

ulysse 2006
1 Steigerung der Unruhfrequenz von 2,5 auf 4 Hz im Modelljahr 2006 dank «Dual Ulysse»-Hemmung.

Aus Zeitmangel und weil ich mir angesichts der prominenten Namen wie George Daniels und François-Paul Journe nur geringe Erfolgschancen ausrechnete, ließ ich es bleiben.» Oechslin schlug vor, das Federhaus unter das Uhrwerk zu verschieben, um den gesamten Durchmesser des Gehäuses nutzen zu können.

«Wenn ich mich recht entsinne, machte das Werk des Prototyps eine Umdrehung in 48 Minuten und hatte zusätzlich noch Zeiger», erinnert sich Oechslin. «Ich dachte mir, wenn das Werk eine Umdrehung pro Stunde vollführen würde, könnten wir auf einen Minutenzeiger verzichten.» Pierre Gygax leuchteten die Argumente ein, und Rolf Schnyder war begeistert, dass sich eine Lösung abzeichnete. «Rolf gab dem Projekt oberste Priorität, weshalb wir die begonnene Entwicklung des Weckers Sonata auf später verschoben und alle Energien auf diese neue Uhr konzentrierten.»

ulysse nardin DIAMonSIL
Im darauffolgenden Jahr kam die DIAMonSIL genannte Diamantbeschichtung der Siliziumbauteile.

NOCH EINEN SCHRITT WEITER

Doch es sollte noch komplizierter kommen: «Eines Tages rief mich Rolf zu sich», schmunzelt Gygax. «Er zeigte mir eine Standuhr und sagte: ‹Schau, die hat Ludwig vorbeigebracht. Sie enthält eine neuartige Hemmung. Meinst du, das wäre was für die neue Uhr?› Ich ahnte schon, dass das die ganze Sache nicht einfacher machen würde, knöpfte mir aber dennoch die Uhr vor.»

KARUSSELL ODER TOURBILLON?

Im Zusammenhang mit der Freak von Ulysse Nardin wird oft von einem Karussell gesprochen. Streng genommen handelt es sich hier aber um ein Tourbillon, selbst wenn das Drehgestell nur eine Umdrehung pro Stunde absolviert, sich der Oszillator nicht exakt in der Mitte befindet und in diesem Fall viel mehr bewegt wird als nur die Komponenten der Hemmung.

Das vom dänischen Uhrmacher Bahne Bonniksen 1892 zum Patent angemeldete Drehgestell, dem er selbst den Namen Karussell gab, unterscheidet sich von Breguets Tourbillon dadurch, dass das Drehgestell durch ein eigenes Räderwerk angetrieben wird und es kein feststehendes Rad gibt, an dem ein Trieb im Drehgestell abrollt. Wenn man bei einem Karussell den Antrieb des Drehgestells unterbricht, läuft die Uhr dennoch weiter, was bei einem Tourbillon nicht der Fall ist. Da der «Minutenzeiger» der Freak an seinem äußersten Ende ein Zahnrad besitzt, das an einem feststehenden Ring mit Innenverzahnung entlangrollt, kann man selbst diesen Exoten zu den Tourbillons zählen.

Die Hemmung, die Gygax in der Uhr vorfand, besaß keinen Anker, dafür zwei gleich große, miteinander verzahnte Räder mit unterschiedlich langen Zähnen. Von den jeweils 25 Zähnen war jeder fünfte etwas länger.

Diese je fünf längeren Zähne hatten die Aufgabe, der schwingenden Unruh einen Impuls zu versetzen, um die Amplitude aufrechtzuerhalten. Die übrigen Zähne verbanden die beiden Räder miteinander, sodass sie sich synchron, aber gegenläufig drehten. Jedes der beiden gab der Unruh abwechselnd einen Impuls. «Ich erkannte die Vorzüge dieser Hemmung sofort», erinnert sich Gygax. «Es war eine Hemmung, die der Unruh den Impuls tangential versetzte, also mit minimaler Reibung.»



Doch er sah auch die Probleme: «In der Tischuhr war die Mechanik um einiges größer, als sie es in der Armbanduhr sein müsste. Beim Verkleinern von Komponenten kann man die Toleranzen zwischen den Komponenten nicht beliebig mitschrumpfen, sonst lässt sich das Ganze irgendwann nicht mehr bewegen. Bei der Komplexität dieser Konstruktion durften die Toleranzen aber auf keinen Fall zu groß sein, weil der Eingriff der Zähne extrem präzise sein musste.»

Als ein erster maßstabgerechter Prototyp der Hemmung fertig war, zeigte sich ein weiteres Hindernis: «Die beiden Hemmungsräder waren viel schwerer als ein einzelnes herkömmliches Hemmungsrad. Es war unmöglich, sie nach der Auslösung schnell genug zu beschleunigen, um der Unruh den richtigen Impuls geben zu können.» In diesem Moment kam dem Team ein Kollege und Freund von Pierre Gygax zu Hilfe, Michel Vermot, Uhrmacher und Lehrer an der Ingenieursschule Le Locle, außerdem Sohn des legendären Charly Vermot, der das Zenith El Primero vor der Zerstörung bewahrt hatte.

Freak innovision 2017
In der «InnoVision» debütierten 2007 neue kombinierte fotolithografische und galvanoplastische Fertigungstechniken, die 3-D-Bauteile ermöglichten.

«Er erzählte mir eines Tages, er habe am CSEM in Neuenburg mikromechanische Teile aus kristallinem Silizium gesehen. Die könne man mithilfe von Fotolithografie extrem präzise herstellen», berichtet Pierre Gygax. Er erfuhr auch, dass Silizium sehr leicht und fest sei, sich also prinzipiell für Hemmungsteile eignen würde. Bevor sie sich jedoch in weitere Unkosten stürzten, wollten die Ingenieure zunächst herausfinden, ob sich das Problem mit leichteren Komponenten beheben ließe.

«Also fertigten wir die Räder aus Aluminium, obwohl ich wusste, dass das Material in der Hemmung nicht lange halten würde, weil es viel zu weich ist», schildert Gygax. «Wir wollten nur sichergehen, dass die Hemmung mit leichteren Rädern funktionierte.» Nachdem der Test bestätigt hatte, dass die Hemmung mit reduziertem Gewicht funktioniert, wurde das CSEM beauftragt, die gewünschten Teile aus Silizium herzustellen.

«Das Tolle an Silizium ist», schwärmt Pierre Gygax, «dass man Formen herstellen kann, die mit Metall und herkömmlichen Maschinen nicht machbar sind. So konnten wir die Zähne hohl zeichnen und dadurch weiteres Gewicht einsparen.»

Freak 2015
Die Freak Lab war 2015 ein Versuchsträger für schmierungsfreie Lagerung, Minimierung von Reibungsverlusten in der Hemmung und die neuartige Stoßsicherung «UlyChoc».

Vorgeschichte

Wie so oft in der Uhrmacherei ist vieles in der Vergangenheit schon einmal irgendwie angedacht oder erfunden worden. Wir haben in Reinhard Meis’ Buch Das Tourbillon einen möglichen Vorläufer der Freak bzw. ihres Prototyps gefunden. 1878 ließ nämlich der Amerikaner Daniel Azro Ashley Buck ein Uhrwerk patentieren, dessen Werk sich synchron mit dem Minutenzeiger stündlich um die zentrale Achse drehte.

Angetrieben wurde das Ganze durch ein rückseitiges Federhaus, das den gesamten Durchmesser des Werks nutzte und mit einer drei Meter langen Feder bestückt war. Die Uhr wurde von der Firma Waterbury Watch & Co. in Billigbauweise hergestellt und für einen Dollar vermarktet. Um das zu ermöglichen, waren sämtliche Teile miteinander vernietet und das Zifferblatt aus Papier. Das verunmöglichte natürlich jegliche Reparatur.

Alfred Helwig habe sich in seinem Buch Drehganguhren folgendermaßen über das Waterbury-Tourbillon geäußert: «Die Konstruktion der Waterbury-Uhr war herzlich einfach, aber darum wirklich genial. Man bedenke: das hochwertige System als allerbilligste Uhr. Wahrscheinlich würde heutzutage ein Versuch dieser Art ganz anders verlaufen.» Wie recht er doch hatte.

Freakwing und Freak Vision
Links: Die Räderbrücke in der FreakWing von 2016 ist wie das Segel einer Jacht geformt. Neu mit Datumsanzeige. Rechts: Im Jahr 2018 kam die Freak Vision mit einer neu entwickelten Ankerhemmung und dem revolutionären automatischen «Grinder»-Aufzugssystem.

Die Hemmung wurde «Dual Direct» genannt, weil sie der Unruh von zwei Seiten einen direkten Impuls versetzt. Sie hatte ihre Premiere in der ersten Freak, die während der eingangs erwähnten Zeremonie enthüllt wurde. Doch Ludwig Oechslin und Pierre Gygax waren mit dem Resultat noch nicht gänzlich zufrieden. «Die Bewegungen der beiden Hemmungsräder waren noch etwas träge», meint Ludwig Oechslin, «weshalb die Schlagfrequenz der ersten Freak bei gemächlichen 18.000 A/h lag. Da gab es noch Verbesserungspotenzial.»

Das Resultat war die «Dual Ulysse»-Hemmung, die in der zweiten Generation der Freak zum Zug kam und mit 28.800 A/h tickte. Seither ist die Freak für Ulysse Nardin eine Art tragbares Laboratorium geworden, eine Konzeptuhr, an deren permanenter Weiterentwicklung die Käufer beteiligt sind. Sie testen die neuen Technologien, die in regelmäßigen Abständen in die Modellfamilie eingebracht werden, im täglichen Gebrauch und geben ihre Erfahrungen an die Manufaktur weiter.

freak next close up
Die Konzeptuhr Freak neXt zeigte 2019, wohin die Reise gehen wird: Die Unruh ist durch ein Hochfrequenz-Schwingsystem aus gelenklosen, vibrierenden Siliziumklingen ersetzt.

Insgesamt 5000 dieser Uhren wurden in den vergangenen zwanzig Jahren gebaut, verteilt auf zahlreiche Modelle in verschiedenen Technik-Generationen. Die Freak wurde zum Vorbild zahlreicher anderer Uhrenmarken, die in der Folge ebenfalls ihre «Concept Watches» lancierten und mit alternativen Zeitanzeigen sowie den neuen «Wundermaterialien» experimentierten, die Ulysse Nardin erst salonfähig gemacht hat.

Neueste Ausführung: Die Freak S

Auf der Watches & Wonders 2022 in Genf lancierte Ulysse Nardin die neueste Vertreterin in der Freak-Reihe. Die Freak S ist mit zwei Schwingsystemen ausgestattet die per Differenzial miteinander verschaltet sind. Es bewirkt, dass erst der durchschnittliche Gang der beiden unabhängigen Systeme an das Uhrwerk weitergegeben wird, um Gangfehler oder Lagedifferenzen auszugleichen. Dieser sogenannte Doppeloszillator wird durch eine Roségoldbrücke miteinander verbunden und auf Basis der DiamonSIL-Technologie umgesetzt.

Ulysse Nardin Freak S
Der Durchschnitt zwei kompletter Schwingsysteme in der Ulysse Nardin Freak S wird an das Uhrwerk weitergegeben.

Text: Timm Delfs

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Ulysse Nardin: Marine Torpilleur 1846
Ulysse Nardin Freak X Carbonium
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